International Music Journalism Award
Findet hier alle Infos über den IMJA, das Bewerbungsformular sowie das Gewinner*innen-Archiv
About
2025 verleihen wir zum achten Mal den International Music Journalism Award!
Am Freitag, den 19. September 2025 feiern wir im Schmidt Theater, Hamburg, zum Abschluss des diesjährigen re:publica Hamburg x Reeperbahn Festival die IMJA Gewinner*innen und würdigen all jene, die mit klarem Blick, kreativen Formaten und einer ordentlichen Portion Leidenschaft über Popkultur und Musikwirtschaft berichten.
Warum wir das tun? Weil guter Musikjournalismus ein unverzichtbarer Bestandteil einer vielfältigen und lebendigen Kulturlandschaft ist. Gerade das Themenfeld Popkultur und Musikwirtschaft ist in ständiger Bewegung, gesellschaftlich hochrelevant und vielschichtig. Hier braucht es Stimmen, die mit Tiefe, Haltung und Begeisterung erzählen, einordnen, kritisieren und inspirieren. Wir wissen: Hochwertiger, kritischer Journalismus entsteht nicht im luftleeren Raum. Besonders im Kulturjournalismus ist der wirtschaftliche, strukturelle und inhaltliche Druck enorm. Viele traditionsreiche Publikationen kämpfen ums Überleben, was vor allem für den Nachwuchs den Einstieg und die langfristige Perspektive in ihrem Berufsfeld erschwert.
Deshalb vergeben wir den IMJA: als Anerkennung für großartige Einzelarbeiten, für kontinuierliche Relevanz, für mutige neue Formate und für journalistische Persönlichkeiten, die mit ihrem Wirken Maßstäbe setzen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den unter 30-Jährigen, die mit frischen Perspektiven und neuen Zugängen den Journalismus von morgen mitgestalten.
Ausgezeichnet werden Arbeiten in folgenden Kategorien:
- Beste*r Musikjournalist*in des Jahres
(auf Deutsch & Englisch) - Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres
(auf Deutsch & Englisch) in den Formaten:- Text (Print & Web)
- Audio
- Multimedia
- Beste musikjournalistische Arbeit von Autor*innen unter 30 Jahren
(nur auf Deutsch)
Wer kann mitmachen?
Eingereicht werden können journalistische Arbeiten, die sich mit Popkultur und/oder Musikwirtschaft in all ihren Facetten beschäftigen – sei es mit Künstler*innen, Szenen, Konzerten, wirtschaftlichen Entwicklungen oder gesellschaftlichen Diskursen rund um Musik. Die Arbeiten können dabei sowohl von den Journalist*innen selbst eingereicht als auch von Dritten nominiert werden. Wer also eine Arbeit kennt, die heraussticht, ist herzlich eingeladen, diese für den Award vorzuschlagen.
Damit die Arbeit von der Jury berücksichtigt werden kann, gelten folgende Voraussetzungen:
- Inhaltlicher Fokus: Eure Arbeit sollte sich mit Popkultur oder der Musikwirtschaft beschäftigen. Das kann ein Porträt sein, eine Reportage über ein Festival, ein analytischer Essay, ein Podcast über Streaming-Trends und vieles mehr.
- Öffentlichkeit: Der Beitrag muss bereits veröffentlicht und öffentlich zugänglich sein, egal ob in Print, Online, Radio, TV, Podcast oder als multimediales Projekt.
Für die Kategorie Beste*r Musikjournalist*in betrachten wir nicht nur eine einzelne Arbeit, sondern die kontinuierliche journalistische Leistung. Das bedeutet: Wie trägt der*die Autor*in über längere Zeit hinweg zur Qualität, Sichtbarkeit und Tiefe des Musikjournalismus bei? Besonders in den Blick nehmen wir hier Persönlichkeiten, die mit Know-how, Haltung und Wirkung überzeugen.
Wir freuen uns auf eure Einreichungen bis zum 18. Juli!
Bewerbungsformular

re:publica 25: Christian Tjaben - Der International Music Journalism Award 2025 @ Reeperbahn Festival
Was kann Musikjournalismus in Zeiten von Streaming-Algorithmen, generativen KI-Texten, Social Media Influencing, zu wenig Pop-Kulturkritik im ÖRR und zu vielen Podcasts:
Moderator und RBF-Konferenz-Kurator Christian Tjaben erläutert die Bedeutung des IMJA zum Start der 2025er Ausgabe.
Gewinner*innen-Archiv
Musikjournalist*in des Jahres (Deutsch): Julia Lorenz (Autorin / Redakteurin (Zeit Online))
Eine Lobrede auf Julia Lorenz zu verfassen, ist die schiere Freude. Einerseits. Auf der anderen Seite hat man sich mit dieser Aufgabe exorbitant zeitraubenden Wahnsinn ans Bein gebunden: Kaum ein*e Kolleg*in hat im vergangenen Jahr ähnlich stetig Text um Text um Text veröffentlicht wie Julia Lorenz, und jeder einzelne davon lädt sehr nachdrücklich dazu ein, darin hängenzubleiben, noch ein Stückchen weiterzulesen, ein paar Zeilen noch, nur noch diesen Absatz zuende, und den nächsten ... willkommen im Kaninchenbau.
Völlig unabhängig davon, ob Julia Lorenz bei Zeit Online veröffentlicht, in ihrer Kolumne beim Musikexpress oder bei irgendeinem anderen Medium, das sich deswegen hoffentlich vom Glück geküsst fühlt, einerlei, ob sie über politische oder gesellschaftliche Fragen schreibt, über Klima oder über Kunst, über Erbauliches oder über Ekelhaftes: Es wirkt nie, als erledige sie da bloß einen Job. Lorenz schreibt stets mit Herzblut, mit Interesse an und Respekt vor ihren Themen, genau wie vor ihrer Leser*innenschaft. Dabei formuliert mit einer ungekünstelten, lässigen Eleganz, die eine*n in den nackten Neid treiben könnte, besänftigte nicht der gebotene Lesegenuss.
Zum Glück für uns alle nutzt Julia Lorenz ihre vielen Talente immer wieder, um über Musik zu schreiben. Kenntnisreich und erhellend erörtert sie Künstler*innen, ihre Alben, Strömungen und Entwicklungen im Kulturbetrieb, und erweitert damit manchen Horizont. Ihre Top-drei-Lieblingsalben des letzten Jahres stammten übrigens von Rosalìa, Shygirl und Lucrecia Dalt, Geschmack hat sie also auch noch. Es ist eigentlich frech!
Für die Jury: Dani Fromm
Beste*r Musik-Journalist*in des Jahres (Englisch): Emma Warren (Author, Publisher)
Die britische Dance- und Clubkultur hat der Welt über all die Jahrzehnte nicht nur die aufregendsten Musikstile beschert, zu denen wir unsere schicken Hintern schütteln konnten, von Lovers Rock bis Drum & Bass, von Dubstep bis Grime, von Synth-Pop bis UK Garage - sie hat auch einige der besten, leidenschaftlichsten, sachkundigsten, meinungsfreudigsten und ja, auch sehr lustigen und unterhaltsamen Musikjournalisten hervorgebracht. Zum Beispiel in Magazinen wie dem brillanten Jockey Slut aus den 90er Jahren, das von der diesjährigen Gewinnerin des Preises für den internationalen Musikjournalisten des Jahres mitbegründet wurde: Emma Warren. Sie hat tonnenweise Texte für alle großen Zeitungen wie den Guardian, Observer, The Face, Fader, MixMag und so weiter geschrieben, Podcasts gemacht, Vorträge gehalten, auf allen möglichen hochkarätigen Plattformen kuratiert. Außerdem hat sie einige großartige Bücher geschrieben, von denen ihr neuestes, "Dance Your Way Home: A Journey Through The Dancefloor" ("Tanz Dich nach Hause: Eine Reise durch den Dancefloor"), hat uns zu der Entscheidung gebracht, dass es endlich an der Zeit ist, sie mit diesem Preis zu ehren. In dem Buch erzählt sie ihre persönliche Tanzgeschichte von einer Zeit, als sie noch nicht einmal zur Schule ging, über die Zeiten, in denen sich ihr Leben mehr und mehr mit all den dynamischen Tanzentwicklungen im Vereinigten Königreich ab den späten 80ern ausrichtete, angefangen mit Acid House bis hin zu den Jungle-lastigen 90ern und was es sonst noch gab - Sie hat alles gesehen, alles verarbeitet, alles abgedeckt und sich durchgetanzt bis in die Gegenwart, wo sie immer noch tanzt und sich an den modernen Formen der Tanzkultur für alle Altersgruppen erfreut, an gemeinschaftlichen Formen des Zusammenseins, die gleichzeitig brandneu und völlig altmodisch erscheinen. Möge die legendäre Emma Warren noch sehr lange weiter tanzen und schreiben!
Für die Jury: Hans Nieswandt
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - deutsch): Lena Bammert (Die Welt ist eine Scheibe - Süddeutsche Zeitung)
Lena Bammert entführt uns mit ihrem Text in die Welt eines weiblichen DJs, die wert darauf legt, nicht als DJane bezeichnet zu werden. Die einen langen Weg zurückgelegt hat, um als Frau mit Migrationshintergrund ernstgenommen zu werden. Die in einem Schuhgeschäft begann und nun als DJ Sedef Adasï unter anderem im Berliner Berghain und im Münchner Blitz-Club für regelmäßige Sets gebucht wird.
Als freie Journalistin für die großen Tages- und Wochenzeitungen schreibt Bammert „über alles“, wie es in ihrem Profil bei der „Zeit“ heißt. In ihrer „SZ“-Geschichte „Die Welt ist eine Scheibe“ spüren die Leser, dass sie es bei ihr nicht mit einem reinen Musik-Nerd zu tun haben, sondern mit einer Autorin, die sich in ihrem Porträt auf zauberhafte Weise mit dem Menschen befasst. Die sich für die Herkunft, das Aufwachsen, die Kultur der Familie sowie die Vielseitigkeit ihrer Protagonistin interessiert. Für die Sedef Emini, die mit 15 Jahren begann aufzulegen, die aber auch selbst Musik macht. Die nach 15 Jahren Arbeit in einer Männerwelt vor zwei Jahren endlich Erfolg hatte.
Bammert nimmt uns mit auf eine Reise durch ein Leben vom Teenager bis zur erwachsenen Frau. Sie zeigt uns eine Binnensicht, lässt uns die Geschichte ihrer Heldin miterleben. Man möchte nicht aufhören zu lesen.
Für die Jury Susanne Baller
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - englisch): Matthew Schnipper (The Sound of Grief - The New Yorker)(
Was ist Musikjournalismus? Jedes Jahr stellen wir uns diese Frage. Was ist Musikjournalismus heute? Wozu ist er gut und was leistet er? Was kann er leisten? Und was sollte er leisten?
Antworten gibt es so viele, wie es fantastische Beispiele für das Schreiben über Musik gibt. Aber manchmal, manchmal gibt es dieses eine Stück, das heraussticht. Das einen die Musik spüren lässt und es dennoch schafft, über sie hinauszugehen und eine höhere Wahrheit anzustreben, die jenseits des Klangs, des Textes, des Handwerks selbst zu finden ist.
In seinem sehr persönlichen Essay "The Sound of Grief", der im New Yorker veröffentlicht wurde, ist Matthew Schnipper genau dies gelungen. Der in New York City lebende Autor und Redakteur, der unter anderem für The Fader, Pitchfork, GQ oder das New York Magazine schreibt, erforscht darin den Verlust seines 22 Monate alten Sohnes anhand der Musik, mit der er, Matthew, aufgewachsen ist, der Musik, die ihm in seiner Jugend geholfen hat, der Musik, die den Namen seines Sohnes, Renzo Rollins Schnipper, inspiriert hat, der Musik, die er mit ihm geteilt hat, der Musik, die Renzo geliebt hat, der Musik, zu der Renzo geklatscht und gelächelt hat - und der Musik, die Matthew nach dem Tod seines Sohnes nicht mehr hören konnte.
"The Sound of Grief" ist ein emotionaler Schlag in die Magengrube. Aber es ist klar, dass es nicht geschrieben wurde, um einen Schlag in die Magengrube zu versetzen oder um den Bekanntheitsgrad des Autors zu erhöhen. Es ist ein mutiges Werk, in dem der Schmerz des Autors durchscheint und der Leser die Last spürt, die er und seine Partnerin tragen. Matthew gelingt das seltene Kunststück, das Persönliche, das Musikalische und das Transzendente organisch in einem atemberaubenden Essay zu verbinden, der jeden Leser als eine andere Person zurücklässt, als er vor der Lektüre war.
Für die Jury: Aida Baghernejad
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - deutsch): Falk Schacht / Sophie Kernbichl / Finna / Edis Ünek (Queerer Deutschrap - der PULS Podcast mit Falk Schacht- PULS / Bayerischer Rundfunk)
Das Jubiläum „50 Jahre Hip Hop“ wirft im Jahr 2023 auch die Frage auf, was gibt es dieser Geschichte heutzutage noch hinzuzufügen, ohne die immer gleichen Anekdoten in Variationen zu wiederholen? Der Podcast „Queerer Deutschrap“ von Puls (Bayrischer Rundfunk) schafft das auf eindrückliche Weise, in dem er sich einem Thema und einer Gruppe von Menschen widmet, das und die den Hip Hop zwar mitgeprägt, aber seit Jahrzehnten deutlich zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben. Falk Schacht, Sophie Kernbichl und ihre Gästin Finna rücken diese queeren Perspektiven im Podcast „Queerer Deutschrap“ in den Mittelpunkt und geben den Protagonist*innen den Raum, der ihnen zusteht.
Über sechs Folgen analysieren sie zum Beispiel zusammen mit Rapper*innen wie Ebow, Lia Sahin, Sir Mantis, Sookee oder Kay Shanghai, welche Rolle Homophobie und toxische Männlichkeitsbilder spielen und warum solche Männlichkeitsbilder im Rap besonders ausgeprägt sind.
Auch grundsätzlicheren Fragen wird versucht auf den Grund zu gehen: Was zeichnet queeren Rap überhaupt aus und welche verschiedenen Perspektiven gehören zur LGBTQIA+-Community? Vor allem beweist dieser Podcast auch: queere Acts und Perspektiven sind von Anfang an Teil des Diskurses „Hip Hop“. Dafür wird - trotz des Titels „Queerer Deutschrap“ - auch ein intensiver Blick auf die Geschichte des Genres in den USA oder UK geworfen.
Die Frage, warum uns mal wieder ein weißer „cis“ Mann die Welt erklären / diese Geschichte erzählen soll, hat wiederum die Jury sehr beschäftigt. Letztendlich hat uns überzeugt, dass in allen sechs Podcast-Folgen vor allem die queeren Protagonist*innen meinungsstark zu Wort kommen und der männliche Show Host eher wie ein Gastgeber wirkt, der seinen Gästinnen Raum und Reichweite gibt, ohne gönnerhaft zu wirken oder ins mansplaining zu verfallen. Und auch, weil er sich selbstkritische Fragen stellt und die eigene Vergangenheit als Negativ-Beispiel dient. Der Podcast ist ein Gewinn für alle, die aufgeschlossen sind, etwas dazu zu lernen und anders zu handeln, um ein*e Ally für queere Künstler*innen zu sein.
Die Jury möchte ausdrücklich die Teamleistung aller Podcast-Protagonist*innen herausstellen und prämieren.
Jede*r Hip Hop Fan sollte diesen Podcast gehört haben.
Für die Jury: Jessica Hughes & Elissa Hiersemann
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - englisch): Larry Mizell, Jr. (50 Years Of Hip-Hop - KEXP)
2023 ist - wie wir alle wissen - das Jahr, in dem der Hip-Hop 50 Jahre alt wird. Zumindest wurde eine Party, die am 11. August 1973 in der Bronx stattfand, kollektiv ausgewählt, um die Geburt des Genres zu feiern. KEXP, die Public Radio Station aus Seattle, Washington, nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, die Kunstform und kulturelle Praxis in ihren verschiedenen Ausprägungen und ihren Protagonisten mit der mehrteiligen, einjährigen Podcast-Serie 50 Years of Hip-Hop zu feiern. Moderator Larry Mizell Jr. und seine Kollegen von KEXP nehmen uns mit auf eine Reise, die sowohl wichtige musikalische Meilensteine als auch Nebenschauplätze und Underground-Phänomene der Hip-Hop-Kultur in den Blick nimmt und zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen lässt.
So erfahren wir zum Beispiel, dass Blondie zu den ersten Verbündeten der Hip-Hop-Kultur gehörten, die 1980 mit ihrem Nummer-1-Hit Rapture den Rap ins Mainstream-Radio und Rapper wie Fab 5 Freddy ins Rampenlicht brachten. Wir erfahren, wie das Scratching erfunden wurde oder inwieweit sich Hip-Hop-Crews 1984 von Prince oder Kraftwerk beeinflussen ließen und in der Folge Elektro-Rap die Szene dominierte. Wir erfahren, wie die palästinensische Crew DAM den Hip-Hop nutzt, um die bestehenden Verhältnisse in ihrem Heimatland zu verändern. Wir feiern den innovativen Sound von Missy Elliott, der das neue Jahrtausend einläutete, oder tauchen tief in das Album Speakerboxxx/The Love Below ein, OutKasts Opus magnum aus dem Jahr 2003 - und das letzte Album, das einen Grammy in der Kategorie Album des Jahres gewann.
Und vor allem erfahren wir, dass es schon vor dem berüchtigten 11. August 1973 eine aufkommende DJ-Kultur und legendäre Blockpartys in New York gab, wo DJs wie DJ Hollywood, die in der Hip-Hop-Geschichtsschreibung oft übersehen werden, die Kunst des Feierns für immer veränderten, indem sie mit zwei Plattenspielern parallel auflegten und ihre eigenen Texte über die Musik und die Breaks legten.
Die Podcast-Serie 50 Years of Hip-Hop ist ein wilder, lehrreicher und vor allem unterhaltsamer Ritt durch ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte, der einmal mehr verdeutlicht, wie aus der Underground-Kultur marginalisierter afro-amerikanischer und Latin Kids der dominierende Player der heutigen Popkultur wurde.
Für die Jury: Katharina Grabowski
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Multimedia - deutsch): Julia Schweinberger / Lennart Bedford-Strom / Friederike Wipfler / Anne Brier / Sammy Khamis (Dirty Little Secrets - ARD Mediathek)
Das Gemeinschaftswerk "Dirty Little Secrets" von Julia Schweinberger, Lennart Bedford-Strom, Friederike Wipfler, Anne Brier und Sammy Khamis ist ein vielseitiger Ansatz zum Geschichtenerzählen. Durch die kunstvolle Kombination von Text, Audio, Video und visuellen Elementen hat dieses Team eine eindringliche Erfahrung geschaffen, die die Grenzen des traditionellen Journalismus überschreitet.
Ihre Arbeit erinnert uns daran, dass es bei Musik nicht nur um die Noten und Texte geht, sondern auch um das Leben, die Kämpfe und die Triumphe derer, die sie schaffen.
In einer Welt, in der sich der Musikjournalismus oft auf Glanz und Glamour konzentriert, ist "Dirty Little Secrets" eine ergreifende Erinnerung daran, dass es unter der Oberfläche Tiefe und Komplexität gibt. Es ermutigt uns alle, die Schichten der Musik und die Geschichten zu erforschen, die dem Rampenlicht verborgen bleiben.
Herzlichen Glückwunsch an Julia Schweinberger, Lennart Bedford-Strom, Friederike Wipfler, Anne Brier und Sammy Khamis zu dieser wohlverdienten Anerkennung!
Für die Jury: Niloufar Behradi-Ohnacker
Beste musikjournalis- tische Arbeit des Jahres (Multimedia - englisch): Sophia Jones / Nidzara Ahmetasevic / Milivoje Pantovic (The DJ and the War Crimes- Rolling Stone/Starling Lab)
Der Artikel "The DJ and the War Crimes" von Sophia Jones, Nidžara Ahmetašević und Milivoje Pantović, der im Rolling Stone veröffentlicht wurde, ist unbestreitbar ein Meisterwerk des investigativen Journalismus.
Diese Journalisten haben sich in ihrem Beitrag mit einem außergewöhnlich sensiblen und komplexen Thema auseinandergesetzt. Sie haben die Leser gekonnt auf eine fesselnde Reise mitgenommen und die schmerzliche Realität von Kriegsverbrechen und deren verheerenden menschlichen Tribut beleuchtet.
Was diesen Artikel so bemerkenswert macht, ist nicht nur sein akribisch recherchierter Inhalt, sondern auch seine beeindruckende multimediale Umsetzung.
Es ist eine Freude und eine Pflicht, Sophia Jones, Nidzara Ahmetasevic und Milivoje Pantovic für ihre außergewöhnlichen Beiträge zum investigativen Journalismus und zum multimedialen Geschichtenerzählen zu ehren.
Herzlichen Glückwunsch zu dieser wohlverdienten Anerkennung!
Für die Jury: Niloufar Behradi-Ohnacker
Beste musikjournalistische Arbeit (unter 30 Jahren - deutsch)
Manuel Biallas Schwul im Rap - Limits in London - RBB
Cok güzel. Superb. Impresionante! Dieser Podcast vereint alles, was ich mir von jungen Journalist*innen wünsche: Kreativität, Ausland, Gesellschaftskritik, Aufmüpfigkeit und Information. Manuell Biallas schafft es neben seinem Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk noch einen RBB-Podcast unterzubringen. Er schafft es mithilfe des Überbegriffs "Queer in Europa" geschmeidig Geschichten über schwedische Flüchtlingspolitik, religiöse Spannungen in Italien, die Geschichte der Romani-Gemeinden in Bulgarien und eben auch über Hip-Hop zu berichten. Auch wenn ich es etwas holprig fand, dass er direkt zu Beginn der ausgezeichneten Podcast-Folge "Schwul im Rap - Limits im London" spezifisch von Bengalisch, Vietnamesisch oder Türkisch spricht, während die Sprachen des afrikanischen Kontinents als "afrikanische Sprachen" zusammengefasst werden, tut das der Exzellenz dieser Arbeit keinen Abbruch. Biallas erzählt in dieser Episode die Story von zwei aufstrebenden Künstler*innen im Vereinigten Königreich. Es geht um den schwulen Rapper Dennell und die queer*e Skater*in Sheiva. Ich liebe, dass wir hören, wie der Reporter an der Türklingel der portraitierten Acts klingelt. Ich liebe, wie der Reporter seine Umgebung beschreibt. Ich liebe, wie der Reporter uns erklärt, welche Begriffe er warum verwendet. Ich bin sehr stolz!
Für die Jury: Malcolm Ohanwe
Rike van Kleef Wer gibt hier den Ton an? Warum Gender Imbalance nicht egal ist - MusikWoche
"Der folgende Artikel bezieht sich auf Abschnitte meiner Abschlussarbeit", stellt Rike van Kleef ihrem Gastbeitrag in der MusikWoche voran. Das erklärt auch gleich die nüchterne, völlig un-blumige Sprache, die ihre Abhandlung über "Gender-Imbalance im Booking" (abgesehen von ihrem traurigen Thema) nicht zu dem macht, was gemeinhin einen Lesegenuss ausmacht. Wir haben diesen Text dennoch für höchst Preis-würdig befunden.
Viel zu oft nämlich brechen hysterische Diskussionen los, ehe überhaupt jemand die Datenlage gecheckt hat. Genau das hat Rike van Kleef getan. Auch wenn man eigentlich mit zwei ausgestochenen Augen sehen könnte, dass FLINTA in der Musikbranche noch immer dramatisch unterrepräsentiert sind, belegt sie dies zunächst einmal mit soliden Zahlen, und räumt dann erst mit den Mythen von "fehlendem Angebot" und "mangelnder Qualität" auf.
Wissenschaftlich erhobenen Fakten kann man in aufgeheizten Zeiten wie den unseren gar nicht genug Platz einräumen. Wir bedauern, dass ein solch flammendes Plädoyer für mehr Gendergerechtigkeit im Booking noch immer nötig ist. Wir möchten zuversichtlich bleiben, dass es auf mehr und mehr offene Ohren trifft. "Ich bin nicht bereit, noch 132 Jahre zu warten", schließt Rike van Kleef, und wir schließen uns voll umfänglich an.
Für die Jury: Dani Fromm
Ridal Carel Tchoukuegno Bloß keine Heartaches - Zeit Online
Ich feiere es, dass wir in der deutschen Medienwelt an einem Punkt angelangt sind, wo Menschen, die wirklich von klein auf Ahnung und Expertise von Musikrichtungen jenseits West-Europas und Anglo-Amerikas haben, die Möglichkeit haben, Musik zu sezieren, zu bewerten, zu besprechen, zu loben und zu zerreißen. Für Zeit Online rezensiert Ridal Carel Tchoukuegno Peter Foxs Album "Love Songs". Sehr pointiert kontrastiert er, wie Afrodrill, eine Genre unter anderem geprägt durch britischen Rap und westafrikanischen Pop, bei schwarzen Musikern wie Headie One oder M1llionz der Soundtrack für die Bewältigung von Armut und Gewalt ist und für Peter Fox ein Ventil sei, um Persönlichkeitsentwicklung zu beschreiben. Ein rundum informativer und kurzweiliger Text. Auch, wenn er sich mit Meinung und Bewertung der Musik eher zurückhält, wozu das Genre der Rezension eigentlich regelrecht einlädt, funktioniert der Text dennoch in seiner Fähigkeit Sachverhalte simpel und verdaulich zusammenzufassen. Come thru Cameroon!
Für die Jury: Malcolm Ohanwe
Musikjournalist*in des Jahres (Deutsch): Joachim Hentschel
Musikjournalist*in des Jahres (Deutsch): Joachim Hentschel
Musik-Journalist*in des Jahres (Englisch): Kaitlyn Tiffany
Technisch gesehen ist Kaytlin Tiffany eigentlich keine Musikjournalistin. Nicht in dem Sinne, dass sie Platten rezensiert, über Konzerte berichtet oder Musiker in Hotels zu Interviews trifft. Sie ist nicht einmal wirklich eine Pop-Journalistin, denn in den vielen Texten, die sie als Stamm-Autorin von The Atlantic schreibt, geht es um alle möglichen Dinge, die nicht streng oder gar ausschließlich auf den Bereich Pop beschränkt sind. Was sie aber hat, und zwar auf großartige Weise, ist eine Pop- Sensibilität. Das bedeutet, dass sie alles, worüber sie schreibt - nehmen wir zum Beispiel ihren Atlantic-Artikel über den Umstand, dass heutzutage jeder "toxisch" zu sein scheint -, mit dieser Pop- Sensibilität betrachtet, verarbeitet und dann in Worte fasst. Das macht ihre Artikel selbst zu einer Art Pop, und zwar auf die bestmögliche Art und Weise: höchst aufschlussreich, höchst unterhaltsam, temporeich und voller Ideen, alles zur gleichen Zeit. Das ist brillant!
Das bisherige Meisterwerk der noch jungen Autorin aus Brooklyn, und auch das Werk, das sie in der Tat als Musikjournalistin des Jahres qualifiziert, ist ihr Buch „Everything I Need I Get From You - How Fangirls Created The Internet As We Know It“. Als ehemaliges Fangirl der Boygroup One Direction legt sie hier eine Fülle von Fakten und Phänomenen dar, die den meisten Menschen, vor allem männlichen über 35, bisher unbekannt waren, und interpretiert sie auf verblüffende Weise. Die (Kauf-)Kraft und Bedeutung von Fans an sich ist natürlich keine neue Entdeckung, aber die Art und Weise, wie sich das Fanwesen im digitalen Zeitalter beschleunigt und verändert hat, wie dies die Natur des Internets im Guten, im Schlechten und im Allgemeinen verändert hat, und die Beobachtung, dass das meiste davon tatsächlich freiwillig und passioniert von jungen Mädchen in ihrer Freizeit vorangetrieben wurde, während die Jungs hauptsächlich Pornos schauten und Counterstrike spielten, ist wirklich ziemlich rührend und verblüffend.
Nur ein Mensch, der selbst Teil der Bewegung war, konnte das so beobachten. Das macht Kaytlin Tiffany, die eigentlich vor allem über Technologie und Soziales schreibt, fast zu so etwas wie einer Pop-Person im eigenen Recht, einer regelrechten Pop-Aktivistin, was gute Pop-Journalist:innen ja sowieso sein sollten. Herzlichen Glückwunsch, wir freuen uns auf viele weitere Jahre erstklassiger Beiträge dieses erstaunlichen Talents!
Für die Jury: Hans Nieswandt
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - Deutsch): Annett Scheffel (Die feine Kunst des Draufscheißens - Musikexpress)
Wenn eine Autorin es schafft, Leser*innen mit einem Porträt über eine Künstlerin zu begeistern, obwohl sie zuvor nie Fan ihrer Musik waren, wenn sie neugierig macht und durch ihren Artikel zu einem erneuten Hereinhören in die Songs verführt, dann hat sie ihr Ziel erreicht. Annett Scheffel ist das mit ihrem Stück über die neuseeländische Musikerin Lorde gelungen. Sie hat das Erscheinen ihres dritten Albums, „Solar Power“, 2021 genutzt, die Entwicklung der heute 25-Jährigen nachzuzeichnen, deren musikalische Karriere bereits zehn Jahre zuvor begonnen hat.
Scheffels Text für den Musikexpress, „Die feine Kunst des Draufscheißens“, beschreibt mit einem liebevollen Blick eine Künstlerin, die sich dem Markt und der Social-Media-Welt entzieht und nur zurückkehrt, wenn sie sich bereit dafür fühlt. Damit repräsentiert Lorde den Teil ihrer Generation, der sich dem Konsum verwehrt, secondhand kauft und off-grid lebt. Scheffel gelingt der Schwenk zwischen Videocall nach New York City, der eine verträumte junge Frau schildert, die während des Telefonats aus dem Fenster blickt und erzählt, was auf der Straße zwischen den Brownstones passiert und einem Szenenwechsel zum Interview, in dem Ella Yelich-O’Connor (Lorde) von Neuseeland, ihrer zweiten Heimat NYC, einem Trip in die Antarktis und ihrer Genese durch Musikgenres sowie den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge erzählt: Natur, Freunde, das Baden im Meer.
Ohne Annett Scheffel hätten wir nie so einfühlsam davon erfahren.
Für die Jury: Susanne Baller
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - Englisch): Hashino Yukinori (Okuda Hiroko: The Casio Employee Behind The “Sleng Teng” Riddim That Revolutionized Reggae - nippon.com)
Hashino Yukinori hat einen sehr guten Text über ein außergewöhnlich tolles Thema geschrieben: „The Casio Employee Behind the “Sleng Teng” Riddim that Revolutionized Reggae.“ Ausgehend von dem eingängigen Beat und den Preset-Geräuschen aus "Under Mi Sleng Teng", dem Dancehall-Welthit des jamaikanischen Sängers Wayne Smith von 1985, folgt er der Geschichte des Presets. Der Signature-Sound des Songs, Anfang der 1980er für den Casiotone MT-40 programmiert, wurde von Smith und Co-Autor Noel Davey als Grundbaustein des Hits verwendet. Jamaikanischer Digital Dancehall beruht also auf dem voreingestellten Rhythmusmuster (Casiotone-Preset) des Taschenrechner-Herstellers und war das Werk einer jungen Entwicklerin, die eine musiktheoretische Ausbildung hatte. Okuda Hiroku, die der Autor des Textes ausführlich interviewt hat, steht also für eine irre Geschichte zwischen zwei Kontinenten. Aneignungsdebatten, ziselierte Technikgeschichte, interkulturelles oder nerdiges Fachwissen: Fehlanzeige. Hashino Yukinori ordnet diese kleine Musikgeschichte zwar in die große ein, aber erzählt seine oder besser „ihre“ Geschichte gradlinig und klar. Und verlässt sich zurecht blind auf das wirklich außergewöhnlich interessante Material. Ihm ist ein gut lesbarer, sehr informierter und trotz seiner Straightness seltsam anrührender Text gelungen, den wir hiermit auszeichnen.
Für die Jury: Mascha Jacobs
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - Deutsch): Azadê Peşmen (Deso - Der Rapper, der zum IS ging - funk (ACB Stories und Qzeng Productions))
Die Geschichte, die Azadê Peşmen erzählt, ist verstörend, verwirrend und fesselnd, vor allem aber ist sie in dieser Tiefe und Sensibilität noch unerhört. Dabei sind die Fakten längst bekannt: Denis Cuspert machte sich als Deso Dogg in der Berliner Rapszene einen Namen, geriet an islamistische Fanatiker und schloss sich der Terrororganisation IS an. Er predigte Hass, sang Propaganda-Songs, beging Grausamkeiten in Syrien und ist mit großer Wahrscheinlichkeit inzwischen tot. Medien berichteten schon vor Jahren – nur taten sie dies selten so sorgfältig, wie es eine derart komplexe wie ungeheuerliche Biographie verlangt.
Fast fünf Stunden lang führen uns Azadê Peşmen und ihr Team von COSMO und ACB Stories in Denis Cusperts Labyrinth aus Hoffnungen, Spannungen und Widersprüchen hinein, später auch in seine Abgründe. Schritt für Schritt tasten wir uns voran: Islam- und Terrorexpert*innen erläutern Muster, Psycholog:innen ordnen begünstigende Faktoren ein. Ehemalige Musik-Kolleg*innen teilen ihr Unverständnis und Familienmitglieder ihre Verzweiflung. Dabei bringt uns Azadê Peşmen den Menschen Denis Cuspert näher als alle Blockbuster-Storys zuvor – und wahrt dabei doch zu jedem Zeitpunkt die gebotene Distanz. Haltung ja, Meinung nein. Viele Perspektiven, doch das Ziel immer klar vor Augen. Medien- und selbstkritisch. Selbstbewusst, aber auch transparent in Bezug auf die Grenzen der eigenen Recherche. „Deso Dogg – der Rapper, der zum IS ging“ ist ein Glanzstück des modernen Journalismus.
Für die Jury: Christof Lindemann
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - Englisch): Danyel Smith (Black Girl Songbook - The Ringer Network/Spotify)
In der mehrteiligen Podcast-Serie „Black Girl Songbook“ bringt uns Danyel Smith afro-amerikanische Musikgeschichte näher. Eine Musikgeschichte, die die Basis unzähliger populärer Musikströmungen des 21. Jahrhundert bildet, aber oft als treibende Kraft der Pop-Kultur verkannt wird. Auch wird das Können, die Genialität und die Virtuosität der afro-amerikanischen Akteur*innen medial kaum gebührend kontextualisiert.
Smith‘ Ausgangsposition ist eine Position, die viel aufholen will. Im Black Girl Songbook wird intersektionale Diskriminierung aufgearbeitet. Das Schaffen Schwarzer Musikerinnen wird endlich mit dem Respekt, der Sorgfalt und dem Tiefgang behandelt, die ihnen breitenwirksam zustehen. Danyel Smith ist Musikjournalistin und Autorin, war erste Schwarze Redakteurin sowohl beim Billboard Magazin, als auch beim Vibe Magazine, wo sie später ebenfalls als Chefredakteurin fungierte und war für Publikationen wie der New York Times, Entertainment Weekly oder das Time Magazine tätig.
In ihrem Podcast bricht Smith bewusst mit den Konventionen des Musikjournalismus. Das – aus Akustikgründen - in ihrem Schlafzimmer aufgezeichnete Black Girl Songbook, gaukelt keine Objektivität vor, biographische Stationen werden nicht eine nach der anderen heruntergebetet und das Schaffen der afro-amerikanischen Musikerinnen wird außerhalb eines weißen Mainstream Diskurs betrachtet. Auf intimste Weise vermittelt Smith Zusammenhänge, analysiert und ordnet Momente der Popgeschichte neu ein und spielt anschließend auch die passenden Musikbeispiele dazu. Wie war das wirklich mit Whitney Houston, Billie Holiday oder Alicia Keys? Warum sollte man Genrebezeichnungen wie „Neo-Soul“ kritisch beäugen und überhaupt Genregrenzen hinterfragen? All diese Fragen behandelt Danyel Smith im Black Girl Songbook. Und erzählt dabei mit einem Gespür und einer Überzeugung, die uns Hörer*innen die Wucht und Bedeutung ihrer Erzählungen direkt vermittelt. Dazu lädt sie auch andere Akteur*innen aus dem Musikbusiness ein, um ihre Sicht der Dinge wiederzugeben. Eine weitgreifende und längst überfällige Bestandsaufnahme sowie Neuerzählung US-Amerikanischer Musikgeschichte. Smith holt auf, was schon längst hätte aufgeholt werden sollen.
Für die Jury: Dalia Ahmed
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Multimedia - Deutsch): Mariska Lief, Wero Jägersberg (Dichtung und Wahrheit - Wie HipHop nach Deutschland kam - HR)
Diese Dokumentation hätte es fast nicht mehr in unsere Bewertung geschafft. Ich bin sehr froh darüber, dass es gelungen ist. Der Film schafft den perfekten Spagat zwischen öffentlich-rechtlichem Auftrag, die deutsche Regionalität abzubilden, Unterhaltung zu liefern, dem Bildungsauftrag gerecht zu werden und gleichzeitig auch junge, weibliche und/oder migrantische Menschen explizit anzusprechen. Die HR-Doku-Reihe der Journalistinnen Mariska Lief und Wero Jägersberg skizziert den Einfluss von Frankfurt am Main und Hessen, sowie den Einfluss von den vielen nicht-weißen und/oder migrantischen Menschen aus der Region, die die deutsche Pop- und Musikkultur für immer verändert haben. Es geht zwar um Deutschrap allgemein, aber aus der Perspektive Hessens wird auf andere Städte wie Hamburg oder Berlin geblickt.
Den Autorinnen ist es gelungen, absolute Rap-Schwergewichte wie Azad, Sido, Moses Pelham, Sabrina Setlur oder Haftbefehl vor ihre Linse zu bekommen. Sie ikonisieren und dokumentieren diese oft vergessenen Juwelen der deutschen Musikkultur. Alle Interviews sind geschmückt durch fancy Beauty-Shots der einzelnen Star-Gäste, auf die man sich irgendwann einfach nur freut und jede Folge endet mit einem Appetit machendem Teaser: So funktioniert Binging in der ARD-Mediathek! Eine lehrreiche und spaßige Zeitreise durch deutsche Popkultur-Geschichte mit einer guten Mischung aus virtuos ausgewähltem Archiv-Material, exklusiven nie erzählten Anekdoten und Neu-Drehs.
Für die Jury: Malcolm Ohanwe
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Multimedia - Englisch): Arthur Buckner, Linda Diaz (Why Is Brandy Called The "Vocal Bible"? - PBS)
Wir Juroren in der Kategorie Multimedia machen es uns nicht leicht. Immer wieder diskutieren wir darüber, was genau eine hervorragende musikjournalistische Arbeit in dieser Kategorie ausmacht. Ist es eine besondere technische Innovation, die dieses Genre auszeichnet? Die Geschichte verpackt hinter einer App oder einer AR-Bille? Ehrlich gesagt, wir diskutieren immer noch darüber, wo wir hier stehen und wohin diese Kategorie gehen könnte.
Worauf wir uns schnell einigen konnten, war, dass es um journalistische Beiträge geht, die es verstehen - meist visuell - die Fakten zu einer Geschichte zusammen zu tragen. Aber Fakten allein reichen nicht. Das Internet ist für alle da. Und wer es versteht über Genrationen und Nationen hinweg ein popkulturelles Phänomen mit Protagonist*innen, die nicht hätten perfekter ausgesucht werden können, niedrigschwellig zu erklären, hat den Preis dieser Kategorie wohl verdient.
Das YouTube-Video "Why Is Brandy Called the “Vocal Bible”?" von Arthur Buckner und Linda Diaz macht Musikgeschichte erlebbar und erfüllt alle unsere Erwartungen. Brandy Norwood, die mit ihrem selbstbetitelten Debütalbum "Brandy" in den 1990ern durch die Decke ging, wird hier als Gesangstalent und als Vorbild für junge schwarze Frauen auf der ganzen Welt gewürdigt. Abseits von jeglichen rollenspezifischen Klischees.
Herzlichen Glückwunsch allen Beteiligten, die hier mitgewirkt haben, für diese hervorragende Arbeit!
Für die Jury: Niloufar Behradi-Ohnacker
Beste musikjournalistische Arbeit, unter 30 Jahren
Alex Barbian (SINUS Podcast - SINUS)
SINUS hat uns als Jury restlos überzeugt. Als "Musikmagazin zum Hören" bezeichnet Alex Barbian selbst seinen Podcast, exakt so konzipiert er ihn, und so fühlt es sich auch an, wenn man ihn hört: als blättere man in einem Musikmagazin.
Die große Stärke des Projekts liegt in seinem Facettenreichtum: Obwohl ausgewiesener Rap-Experte, beschränkt sich Barbian in seiner Themenauswahl keineswegs auf die Hip Hop-Szene, sondern nerdet sich auch durch Indie, Punk, Pop, Rock und was ihm sonst gerade hörenswert erscheint. Sachkundig, aufgeschlossen und liebevoll widmet er sich gleichermaßen arrivierten Künstler*innen wie Newcomer*innen im Musikgeschäft. Daneben lässt er immer wieder die Medien- und Businessseite zu Wort kommen.
Zur thematischen Bandbreite passt die der Beiträge: SINUS birgt Interviews, Porträts, Vor- und Rückblicke, Gespräche auf Augenhöhe und - natürlich - jede Menge Musiktipps. Die bekommt die Hörer*innenschaft in Gestalt einer begleitenden Playlist gleich komfortabel konsumierbar mitgeliefert.
Dass dieses wild in alle Richtungen wuchernde Dickicht aus Persönlichkeiten, Genres, und Formaten am Ende nicht wie Gestrüpp, sondern wie eine wohl durchdachte Parkanlage wirkt, grenzt an ein kleines Wunder. Es liegt an der Kompetenz, der Sicherheit und der unerschütterlichen Ruhe, mit der Alex Barbian seit Herbst 2021 durch diesen akustischen Garten geleitet. Er hat ihn selbst ersonnen, angelegt und bepflanzt, er hält ihn in Schuss und er gießt ihn mit Herzblut: für uns absolut auspreisens-wert.
Für die Jury: Dani Fromm
Steven Meyer und Victor Pfannmöller (Tanz in die Freiheit - Russlands Ballrooms - MDR)
Dem hauptsächlich als Autoren tätigen Steven Meyer ist es in Kollaboration mit Victor Pfannmöller gelungen, eine packende pop-politische Subkultur in 15 Minuten Video-Reportage einzufangen. In dem MDR-Film zeigen sie, wie sich die afroamerikanische schwule und trans* Tanzform des Voguing in Russland trotz dortiger queerfeindlicher Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt hat. Der erst 21-jährige Student und Voguing-Tänzer Alex wird sehr würdevoll und dennoch sehr intim portraitiert. Den Autoren gelingt es, dass sich der sehr junge Protagonist wohl fühlt und frei über seine Sexualität und seine Familie spricht in einem Land, wo es viele Gründe gäbe, dies nicht zu tun. Der Film verzichtet auf plumpe antislawische Klischees, wie wir sie sonst sehr oft im deutschen Fernsehen sehen und beschäftigt sich dennoch kritisch mit der homofeindlichen Politik Russlands, er zeigt aber auch die dortige bunte LGBTIQ-Community. Die Video-Aufnahmen aus den russischen Ballroms sind das absolute Highlight des Films. Die Tanz-Bilder vom Intro bis zum Schluss überzeugen durch ihre Ästhetik. Der dramaturgische Aufbau, der bis zum Schluss offen lässt, ob Alex seinen nächsten Ballroom-Wettbewerb gewinnen wird, liefert zusätzlich ein spannendes Schau-Erlebnis.
Für die Jury: Malcolm Ohanwe
Walerija Petrowa (Der Aufstieg von Harry Styles - Zwischen Hype, Männlichkeit und Queer-Baiting - Brust Raus (SWR/DasDing))
Warum mögen wir alle gerade Harry Styles? Walerija Petrowa erklärt es uns auf dem YouTube-Kanal „Brust Raus“, den sie zusammen mit Aurora Lu moderiert. Und zwar mit viel Humor, aber mindestens auch genauso viel Tiefgang. Ganz nebenbei behandelt Petrowa am Beispiel von Harry Styles auch Themen wie strukturellen Rassismus, Männlichkeit, Sexismus und Queerbaiting – und erklärt die Begriffe auch für jene, die noch nichts von diesen Diskursen mitbekommen haben. Mit „Brust Raus“ haben die beiden jungen SWR-Journalist*innen und ihr Team es sich auf die Fahnen geschrieben, ihr Publikum zu empowern, in dem sie popkulturelle Themen mit viel Verve und ihm Dialog mit ihrer Community analysieren. Und mit ihrer wöchentlich neuen Playlist liefern sie den Soundtrack zum Empowerment gleich dazu.
Für die Jury: Aida Baghernejad
Musikjournalist*in des Jahres (Deutsch): Aida Baghernejad (Musikexpress, taz, tip berlin)
2019 habe ich es schon gesagt: Merkt euch den Namen Aida Baghernejad. Wer das sperrige Wort “Intersektionalität” in Regenbogenfarben glitzern lassen kann, als wäre Stuart Hall eine lesbische asiatische Frau und du ein muslimischer schwuler Typ, der den Glauben an die Kraft von popkultureller Repräsentation verloren zu haben glaubte, von dem haben wir noch einiges zu erwarten. Die in London ausgebildete und in Berlin lebende Autorin und Podcasterin Aida Baghernejad wurde von uns schon mal für die beste musikjournalistische Arbeit ausgezeichnet. Dieses Jahr haben wir die Ehre, sie als Musikjournalistin des Jahres auszuzeichnen. Die Tausendsasserin hat seit letztem Jahr auch einen Podcast „Pasta und Politik“ und schreibt - u.a. für die FAS, die taz, kaputt, die SZ und den Musikexpress - über Essen, Pop, Feminismus und Politik. Manchmal über alles zusammen, aber was ich neben ihren tollen Texten am meisten schätze, ist dass sie tatsächlich Politik macht und nicht nur darüber schreibt. Sie engagiert sich bei den Friedrichshainer Grünen, ganz pragmatisch und praktisch. Ich glaube ihr jedes Wort und folge ihr überall hin. Sie schreibt zudem einen PHD über Street Food und positioniert sich klar als Antifaschistin. Herzlichen Glückwunsch, Aida, du Topcheckerbunny.
Für die Jury: Mascha Jacobs
Musikjournalist*in des Jahres (Englisch): Stephanie Phillips (Independent, The Quietus, Vice, Bandcamp ,The Wire, Buchautorin von "Why Solange Matters")
Stephanie Phillips schreibt als freie Kunst- und Kultur-Journalistin nicht nur über Musik, sondern auch über das Leben als Schwarze:r in einer von weißen dominierten Gesellschaft. Im Mai 2021 brachte die Mittdreißigjährige ein Buch in der Reihe Music matters heraus und widmete sich mit „Why Solange matters“ Solange Knowles, der „kleinen“ Schwester von Beyoncé. Die Britin und Wahl-Londonerin Phillips veröffentlichte unter anderem im „Independent“, bei „The Quietus“, „Vice“, „Bandcamp“ und „The Wire“. Als Musikerin sorgt sie in der dreiköpfigen Schwarzen und feministischen Punk-Band Big Joanie für Gitarre und Gesang, unter dem Namen Stef Fi erschien 2020 ein Soloprojekt.
Phillips engagiert sich für Black Lives Matter und die LGBTQI-Community. Sie wehrt sich gegen Stereotype und Stigmata nicht nur auf ihrem Twitter-Kanal. In ihrem Leben ist alles miteinander verwoben – und in ihrer Liebe zur Musik hat sie ihre Berufung sowie ihren Beruf gefunden. In Phillips‘ Buch über Solange integriert die Autorin die Sängerin in ihr eigenes Leben ebenso wie die Bedeutung von anderen Schwarzen Künstlern, auch für ihren eigenen Punk-Kulturkreis. Mit ihrer Forderung nach Freiheit liefert Phillips, wie der „Guardian“ schreibt, „eine Vision von einer neuen Welt, von der sie hofft, dass Solange stolz darauf wäre, ein Teil davon zu sein“. Als Gegenentwurf zu einer Welt, in der „Schwarze Kreative unterdrückt werden und der Rassismus in der Szene ignoriert wird“.
Was an Stephanie Phillips so besonders berührt, ist ihre Authentizität und die Nähe ihres eigenen Lebens zu den Themen, denen sie sich widmet, was beeindruckt, ist ihr Blick auf das große Ganze. Als Tochter eines aus Jamaika nach Großbritannien eingewanderten Vaters, aufgewachsen in einer weißen britischen Neighbourhood in den Midlands, schildert sie in bewegenden Erinnerungen – in einem Buch über Solange Knowles! – ihre Erfahrungen damit, unsichtbar zu sein. Sie klingen wie eine Blaupause, die sich auf das Leben vieler Menschen anwenden lässt, die von unserer Gesellschaft nach wie vor benachteiligt werden.
Für die Jury: Susanne Baller
Musikjournalist*in des Jahres (Französisch): Jean Morel (Grünt)
Dank seines eigenen Mediums - Grünt - ist Jean Morel zu einem der wichtigsten Gesichter des französischen Rap-Journalismus geworden. Grünt nutzt verschiedene Formate, von Freestyle über Interviews bis hin zu Reportagen. Diese Inhalte haben Grünt zu einer unverzichtbaren Plattform für die Rap-Szene gemacht. Jean Morel ist in der Lage, die verschiedenen Aspekte der Hip-Hop-Kultur zu zeigen und hat sich während des Lockdowns sehr für den Kulturaustausch eingesetzt. Er moderierte über 50 Live-Interviews, zu denen Rapper und verschiedene Akteure der Branche eingeladen wurden, um unterschiedliche Themen zu diskutieren. Jean war einer der Rap-Journalisten, die die Hip-Hop-Kultur während dieser Krise am Leben hielten.
Die französische Jury
Beste musikjournalis- tische Arbeit des Jahres (Text - Deutsch): Julia Friese: gedanken zum gegenwärtig*innen (Kolumne) - Musikexpress (10.06.21)
Ihre Kolumne „gedanken zum gegenwärtig*innen“, die Julia Friese seit März 2021 für den Musikexpress schreibt, ist überschrieben mit den folgenden Sätzen: Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen? Diese wilde Mischung aus Musik, Lifestyle, Politik, Pop und Literatur ist immer lesenswert, sodass wir auch nicht einen einzelnen Text auszeichnen, sondern alle tollen Texte, die auch stellvertretend für Frieses anderen tollen Texte und Interviews stehen. Julia Friese ist Autorin und Journalistin. Sie schreibt unter anderem für den Musikexpress, Spiegel, Zeit Online, Edition F, Tagesspiegel und Der Freitag. Im Radio hört man sie auf radioeins und im Deutschlandfunk. Und sie ist Mutter und Musikerin. Herzlichen Glückwunsch von uns allen straight from the heart.
Für die Jury: Mascha Jacobs
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - Englisch): Amanda Petrusich: Genre is disappearing. What comes Next? - The New Yorker (08.03.21)
Die Einteilung in Musikgenres steht in der Kritik, berichtet Amanda Petrusich im März 2021 von den Beschwerden über die Grammy Awards und zitiert Musiker, die unglücklich über ihre Nominierung waren, weil sie die Kategorie für ihre Arbeiten falsch fanden. Die Journalistin des „New Yorker“ erklärt mit einem Ritt durch die Musik der letzten Jahrzehnte, warum wir es mit einem systemimmanenten Problem zu tun haben: Genres sind konservativ, weil sie Musik rückwirkend klassifizieren. Ein Dilemma – denn wir brauchen sie einerseits zur Orientierung, finden sie andererseits bisweilen unpassend. Halb wissenschaftlich untermauert, halb mit schelmischen Seitenblicken versehen, schafft es Petrusich auf extrem unterhaltsame Weise, ein versöhnliches Resümee zu finden: Ja, wir alle würden lieber nach vorn sehen.
Für die Jury: Susanne Baller
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - Französisch): Hugo Lautissier: Danser sur les décombres : les trois vies du B018 - Trax (21.02.21)
Im vergangenen Sommer ereigneten sich die Explosionen im Hafen von Beirut in der Nähe des berühmtesten Nachtclubs der Stadt. Hugo Lautissier beschloss, die Geschichte dieses Lokals namens B018 zu erzählen und über die Entwicklung und Geschichte von Beirut in den letzten 30 Jahren zu schreiben. Die Arbeit beeindruckt durch ihre Schreibkunst und das Thema ist besonders und relevant.
Bei der Lektüre dieses Artikels entdecken wir eine ganze Welt, von der wir nichts wussten: das Nachtleben im Untergrund von Beirut. Dank der großartigen Arbeit von Hugo Lautissier erfahren wir viel über den bemerkenswerten Ort, der das B018 ist, und seine Geschichte, aber auch über die Schwierigkeiten, die der Club aufgrund der Wirtschaftskrise, der Pandemie und der politischen Krise durchmacht.
Die französische Jury
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - Deutsch): Diviam Hoffmann, Klaus Walter: Bob Dylan 80 - Mit Diviam Hoffmann und Klaus Walter - WDR3 "Open Sounds" (24.05.21)
Diviam Hoffmann (geboren Ende der 80er-Jahre) und Klaus Walter (Jahrgang 1955) haben Bob Dylan (Jahrgang 1941) eine zweistündige Radio-Sendung im Rahmen von „Open Sounds“ auf WDR 3 gewidmet. Anlass war der 80. Geburtstag des Künstlers Ende Mai 2021.
Wahrscheinlich gibt es kaum etwas, was es nicht schon über Dylan gibt. Alles scheint gesagt, besprochen, analysiert. Die Sendung von Diviam Hoffmann und Klaus Walter ist dennoch eine Bereicherung. „Bob Dylan 80“ wird aus vielen Perspektiven erzählt und Dylan als Künstler u.a. Gegenstand einer Debatte zwischen jung und alt. Wie verhält man sich zum Bsp. als junge Frau und Musikjournalistin zu einem Songtext wie „Just like a woman“, der schon immer frauenverachtend und herabwürdigend gewesen ist? Muss man sich 2021 überhaupt noch dazu verhalten oder sind das ‚yesterdays news’? Wie steht es mit kultureller Aneignung bei „His Bobness“? Darauf gibt Bob Dylan keine fertigen Antworten. Der Reiz der Sendung besteht vielmehr in Auseinandersetzung; dem Zusammenspiel einer jüngeren, weiblichen Perspektive mit der des langjährigen, männlichen Dylan-Experten. Das erlaubt den Hörer*innen, sich selbst zu hinterfragen – gerade auch dann, wenn man mit Bob Dylan vielleicht gar nicht so viel anfangen kann.
Anmerkung der Jury: Bob Dylan sieht sich aktuell mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs konfrontiert. Ein Sachverhalt, der im Mai noch nicht bekannt war und im Feature keine Rolle spielt.
Für die Jury: Elissa Hiersemann
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - Englisch): Carmichael Rodney, Sidney Madden: Louder Than A Riot - NPR (Podcast seit 08.10.20)
Dem Autorenteam dieses NPR-Podcasts gelingt es, eine komplexe Geschichte auf einfache und eindringliche Weise zu erzählen. Sidney Madden und Rodney Carmichael argumentieren, dass der Aufstieg des HipHop in den 1980er Jahren mit Ronald Reagans erbittertem “Krieg gegen die Drogen” und den anschließenden Masseninhaftierungen schwarzer Amerikaner zusammenhängt und untersuchen Strafverfahren, an denen Rap-Artists beteiligt waren. Episode für Episode gehen sie den Hintergründen von Erschießungen, Verurteilungen und Inhaftierungen auf den Grund. Die Fälle von Bobby Shmurda und Nipsey Hussle stehen neben weniger bekannten, aber ebenso interessanten Beispielen und decken sowohl erschreckende individuelle als auch strukturelle Ungerechtigkeiten auf. Sie beleuchten das Phänomen der so genannten “HipHop-Cops”, die sich auf die Verfolgung von Künstlern spezialisiert haben, und analysieren Gesetze im Zusammenhang mit Gangs und Verschwörungen, die junge Menschen aus schwarzen Stadtvierteln unverhältnismäßig stark benachteiligen. Madden und Carmichael sind bestrebt, die Problematik aus allen möglichen Blickwinkeln zu untersuchen (wobei sie ihre eigene Voreingenommenheit als Menschen, die sich mit der HipHop-Kultur identifizieren, nicht verleugnen). So zeigen sie auch auf, wie das Musikgeschäft Klischees über das Gangleben in schwarzen Gemeinden verstärkt hat, indem es Narrative geschaffen und vermarktet hat, die Vorurteile schürten und zur öffentlichen Meinungsbildung beitrugen: Rapper wurden und werden oft noch immer als Sündenböcke für Verbrechen benutzt. Die behandelten Fälle sind zwar alle unterschiedlich, aber die zugrunde liegenden Probleme sind es nicht. Wie “Louder Than A Riot” zeigt, ist das Leben im heutigen Amerika auf allen entscheidenden Ebenen von Diskriminierung und Rassismus geprägt: auf der Ebene der Exekutive, der Legislative und der Judikative.
Für die Jury: Christoph Lindemann
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - Französisch): Wetu Badibanga, Kay Kagame, José Tippenhauer: “Masc’Off” (Podcast)
Masc'Off ist ein Podcast über Rap und Männlichkeit. Dieser Podcast wird von 3 Männern moderiert, die Teil der Rap-Branche sind. Das Interessante an diesem Podcast ist, dass Wetu, Kayitana und José ein Thema behandeln, das von den auf Rap spezialisierten Medien noch nicht behandelt wird und oft stigmatisierend wirkt, wenn es von Leuten behandelt wird, die nicht Teil der Rap-Kultur sind. Dieser Podcast dekonstruiert verschiedene Schemata, die wir im Rap finden können, mit dem Wunsch, nicht zu urteilen. Ziel ist es, auf Probleme innerhalb der Rap-Szene hinzuweisen und zu sehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln könnten.
Dieser Podcast hinterfragt die Darstellung von Männern in der Rap-Musik, durch Texte oder Clips, in denen Männlichkeit ein zentraler Punkt ist. Es wird echte Arbeit geleistet, um die bestehende vorgefasste Meinung zu hinterfragen. Masc'Off ist ein für jedermann verständlicher Podcast mit einer großartigen Analysearbeit.
Die französische Jury
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Multimedia - Englisch): Lea Schröder: Täter an den Decks - Sexualisierte Gewalt in der Clubkultur - frohfroh (05.02.21)
Kein schönes Thema, dessen sich Lea Schröder da angenommen hat - aber ein wichtiges: Ihre Reportage "Täter an den Decks", veröffentlicht beim Magazin frohfroh, spürt sexualisierter Gewalt in der Leipziger Clubszene nach. Daran, wie der Autorin der eigene Beitrag ausufert und über den Kopf zu wachsen droht, weil sich immer mehr und noch mehr Betroffene zu Wort melden, zeigt sich, welche Kreise die Misere zieht: Die schiere Zahl der Erfahrungsberichte kündet unüberhörbar von einem strukturellen Problem, das sich längst nicht mehr zu "Einzelfällen" bagatellisieren lässt.
Das Feature legt nachvollziehbar offen, was eigentlich jede*r weiß, aber kaum jemand wahrhaben möchte: Selbst in einer sich als aufgeklärt, woke und sensibel präsentierenden Bubble sitzen Sexismus und toxische Denk- und Verhaltensmuster tief. Der Beitrag lamentiert aber nicht nur über den beklagenswerten Ist-Zustand, sondern versucht, konstruktiv Wege aus dem Dilemma aufzuzeigen. All das, im Textformat wie auch als Podcast, feinfühlig und mit größtmöglicher Rücksichtnahme auf die Leidtragenden konzipiert: eine beeindruckende journalistische Arbeit.
Für die Jury: Dani Fromm
Beste musikjournalistische Arbeit unter 30 Jahren: Rosalie Ernst: Serie Unfuck the EU - Europäische Werte und musikalische Wiederbelebung - Kaput Mag (27.04.21)
Die wunderschön "Unfuck The EU" betitelte Interview-Reihe bei Kaput setzt sich in einem popkulturellen Kontext mit europäischen Werten und Idealen auseinander. Anlass zur Hoffnung, dass die - auch wenn einen oft genug der gegenteilige Eindruck beschleicht - noch nicht komplett erodiert sind, geben Gespräche mit Musiker*innen. Rosalie Ernsts Tête-à-tête mit Vollzeit-Popsängerin und Teilzeit-Aktivistin Mine eröffnet den Reigen.
Obwohl Interviews eine knifflig zu bewertende Kategorie darstellen, weil ihr Gelingen oder Scheitern in hohem Maße von den Aussagen und der Bereitschaft der Interviewten abhängt, halten wir diesen Beitrag für Preis-würdig: Ernst steckt in klaren Worten das Umfeld ab, hört zu, hakt an den richtigen Stellen nach und lenkt die Unterhaltung mehrfach behutsam auf das Thema Europapolitik zurück. Das Resultat, ein auf Augenhöhe geführtes Gespräch über Kunst, Politik und Haltung, lässt mit dem schönen Gefühl zurück, dass tatsächlich niemand eine Insel sein muss, sondern das Engagement Einzelner Teil eines größeren Ganzen sein kann. Gerne mehr davon!
Für die Jury: Dani Fromm
Beste musikjournalistische Arbeit unter 30 Jahren: Katharina Meyer zu Eppendorf: Musikfluencer - ZEIT Campus (05.08.20)
Mit ihrer Reportage "Musikfluencer" porträtiert Katharina zu Eppendorf für Zeit Campus einen aufstrebenden TikTok-Star namens Falco Punch. Sein Beispiel dient ihr aber nur als Aufhänger, um gleich die ganze Plattform vorzustellen. Sie erklärt schlüssig und nachvollziehbar, wie das Medium die Form der Inhalte diktiert, Hör- und Sehgewohnheiten seiner Konsument*innen verändert und wie sich das wiederum auf den Content auswirkt ... Als Leser*in wähnt man sich in einem Wechselbad der Gefühle, ist abwechselnd fasziniert von den Mechanismen und absolut angewidert vom Kalkül und der geschäftsmäßigen Reißbretthaftigkeit, mit der da angeblich doch "Kunst" entsteht.
Da die Autorin die Branche aber von verschiedenen Seiten aus beleuchtet, zeichnet ihre Reportage letzten Endes doch ein ausgewogenes, facettenreiches, faires Bild. Zudem schafft sie irgendwie, ihren Beitrag mit unfassbar vielen Fakten vollzustopfen, ohne dass er am Ende wie eine Demonstration dröger Zahlenhuberei wirkt, sondern sich TROTZDEM mühelos und mit Vergnügen lesen lässt: ein echtes journalistisches Kunststückchen.
Für die Jury: Dani Fromm
Beste musikjournalistische Arbeit unter 30 Jahren: Yannik Gölz: DOUBLETIME: Xaviers Armee der Finsternis - laut.de (27.05.21)
Yannik Gölz muss keine spektakulären Satzgirlanden flechten, um seine Sprachgewandtheit und Originalität zu demonstrieren. Er analysiert und schreibt auf den Punkt, mit traumwandlerischem Sinn für das präzise Wort, man merkt, dass er vom Rap kommt. Darüber schreibt er auch am schärfsten, aber seine Betrachtungen über K-Pop oder Billie Eilish sind nicht weniger luzide. Ein Riesentalent, von dem es hoffentlich noch sehr viel mehr zu lesen geben wird!“
Für die Jury: Hans Nieswandt
Musikjournalist*in des Jahres (Deutsch): Miriam Davoudvandi (Freelance Musikjournalistin, Das Wetter, Juice, Spex, Backspin)
Der Preis für den oder die "Musikjournalist*in des Jahres" erweist sich alle Jahre wieder als besonders knifflig zu vergeben. Fällt es in den übrigen Kategorien schon schwer genug, einzelne musikjournalistische Arbeiten gegeneinander abzuwägen, lässt sich die Gesamtleistung von Kolleg*innen über Jahresfrist hinweg wirklich nahezu gar nicht mehr vergleichen. Erst recht nicht, wenn das Anwärter*innenfeld auf einen Preis aussieht, wie es auch diesmal wieder ausgesehen hat.
Miriam Davoudvandi hat uns die kaum zu treffende Entscheidung in diesem Jahr aber dankenswert einfach gemacht. Sie begegnete uns in den Einreichungen für den IMJA 2020 einfach immer und immer und immer wieder. Ihre Abhandlung über Tierra Whack, erschienen bei Das Wetter, schaffte es auf die Shortlist in der Kategorie "Beste musikjournalistische Arbeit - Text". Zusammen mit dem Vorjahrespreisträger Malcolm Ohanwe war sie für "Slang & Sprache im Deutschrap" auch für die "Beste musikjournalistische Arbeit" im Bereich "Multimedia" in der engsten Wahl. Der Beitrag, der hier letztlich das Rennen gemacht hat, porträtiert unter anderem ... Trommelwirbel ... Miriam Davoudvandi. Ich wette: Wäre ihr brandaktueller Podcast "Danke, gut.", in dem sie einfühlsame Gespräche über mentale Gesundheit führt, nur ein wenig früher an den Start gegangen, hätte sich auch unsere Audio-Jury mit dieser Frau befassen dürfen.
An Miriam Davoudvandi führte nicht nur im Deutschrap, sondern genreübergreifend im hiesigen Musikjournalismus in den letzten Monaten kaum ein Weg vorbei, und wir finden das auch verdammt richtig so. Ihre Sachkunde, ihre Professionalität, ihre so gar nicht konfrontative, dabei aber niemals unkritische Art und, alles überstrahlend, ihre offensichtliche glühende Liebe zur Sache machen ihre Arbeit so informativ, wertvoll und unterhaltsam und sie selbst zu einer Kollegin, der man jeden Erfolg von Herzen gönnt. Weil sie ihn verdient hat. (Dani Fromm für die IMJA Jury)
Für die Jury: Dani Fromm
Beste*r Musik- Journalist*in des Jahres (englisch): Laura Snapes // Musikredakteurin, The Guardian
Der Preis für die „Beste*r Musikjournalist*in des Jahres“ geht dieses Jahr an Laura Snapes, die seit Jahren ganz besonders gut über Popkultur schreibt. Sie war zunächst Redakteurin beim NME und bei Pitchfork und ist seit 2018 beim Guardian für Popkultur zuständig. Laura Snapes schreibt dort nicht nur über Musik, sie favorisiert einen breiteren Zugang zur Popkultur. Kim Kardashians Umgang mit der Krankheit ihres Mannes oder Madonnas Falschaussagen über Corona stehen neben präzisen und lustigen Rezension über Taylor Swift tolles letztes Album. Ein Interviewband über die französische Band Phoenix („Liberté, Égalité, Phoenix!“) ist bislang ihr einziges Buch geblieben. Doch da wird noch einiges kommen, darauf können wir uns gefasst machen. Denn Laura Snapes recherchiert seit Jahren unerschrocken über strukturelle Misogynie in der Musikbranche. Und ihre subtilen und perfiden Ausformungen in dem Bereich, den man mal Independent nannte, wo es ja zumindest dem eigenen Selbstverständis nach bekanntlich nur so von zarten, aufgeklärten, traurigen und femininen Männern wimmelt. Ein Schutzschild, hinter dem sich bislang frauenfeindliches Verhalten besonders gut verstecken ließen. „Beta male misogyny“ nennt Snapes diese Verhaltensweisen, die sich gegen Frauen richten. Trotz öffentlicher sexistischer Diffamierungsversuche wichtiger Indiestars, lässt sie sich nicht beirren, Misogynie in ihren sehr unterschiedlichen Formen zu analysieren. Um mal eine eher harmlose Degradierung herauszupicken: Zu poppig etwa, sind vor allem weibliche Popstars. Snapes kann für uns aber gar nicht poppig genug sein.
Für die Jury: Mascha Jacobs
Beste*r Musik- journalist*in des Jahres (französisch): Ouafa Mameche (Herausgeberin, Journalistin)
Mit "Faces Cachées" ("Verborgene Gesichter") einer Kolumne, die erst Blog wurde und nun Verlag ist, hat Ouafa den Porträts des französischen Rap im popkulturellen Diskurs Tiefe verliehen. Inzwischen moderiert sie ihren eigenen Podcast und gibt Künstler*innen eine Stimme, die inspirierend, aber oft unsichtbar sind.
Sie arbeitet regelmäßig oder hat für folgende Medien gearbeitet, die sich auf urbane Musik konzentrieren: Das Webzine ABCDR du son, die Radiosendung AfterRap, die im staatlichen Radio Mouv' ausgestrahlt wird, App Keakr, Webradio, das vom französischen Rapper Booba OKLM Radio gegründet wurde... neben dem Start ihres eigenen Podcasts über französischen Rap.
Sie hat einen einflussreichen Artikel mit dem Titel "Retour d'expérience sur l'activité de critique de musical" geschrieben (der sich mit "Feedback zum Musikkritiker*innen-Dasein" übersetzen lässt). Der Artikel entwickelt Ideen, die sie in mehreren Universitätssymposien und Fachgremien zum Ausdruck gebracht hat. Er ist in dem Sammelband "Perspectives esthétiques sur les musiques Hip Hop" (Chants Sons / PUP 2020) veröffentlicht worden.
Die IMJA Jury
Beste*r Musik- journalist*in des Jahres (dänisch): Kristian Karl (Journalist, soundvenue.com)
Dänischer Rap und Hip-Hop hat in den letzten Jahrzehnten einen enormen Wandel durchgemacht. Hip-Hop hat sich von einem Außenseiter zu einer Macht entwickelt, mit der man rechnen muss. Mit anderen Worten, was wir in Dänemark gesehen haben, ist dasselbe, was Hip-Hop auf internationaler Ebene passiert ist: Es ist so ziemlich der neue Pop. Hip-Hop ist überall. Er ist auf TikTok, auf Soundcloud, er gedeiht in den seltsamsten Ecken des Internets und folgt buchstäblich seinem eigenen Beat. Deshalb ist jede*r Musikjournalist*in so wertvoll, die/der genau weiß, womit sie/er oder sie es zu tun hat. Auftritt: Kristian Karl. Er ist ein Hip-Hop-Kenner, aber in erster Linie ist er ein ausgezeichneter Kommunikator von Musik. Er ist der Hauptmoderator von Soundvenue Standard, einem wöchentlichen Hip-Hop-Podcast, aber er ist auch ein großartiger Autor. Und ganz gleich, ob er aufschlussreiche Kommentare oder Berichte aus den Straßen schreibt, wo so viel Hip-Hop geboren wird, er erzählt seine Geschichten mit einer Leichtigkeit und Klarheit, die sowohl die Insider des Genres als auch die Menschen, die von außen folgen, anspricht.
Für die Jury: Pernille Jensen
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - deutsch): Ariana Zustra (Ariana Grande und das "Blackfishing" - Wo beginnt Rassismus? - Kaput (08/2019))
Ariana Zustra, Jahrgang 1987, Musikerin und freie Musikjournalistin, hat sich im August 2019 für das „Kaput“-Magazin mit dem Phänomen des blackfishing auseinandergesetzt, mit dem in den USA weißen Künstler*innen vorgeworfen wird, wie Schwarze aufzutreten. Eine von ihnen ist die 26 Jahre alte Popsängerin Ariana Grande, der das als Rassismus vorgeworfen wird. Nicht nur, weil im Zuge des Todes von George Floyd im Mai 2020 die „Black Lives Matter“-Bewegung eine erneute Welle an Unterstützung erlebt, sieht die Jury in Zustras Text einen spannenden Beitrag zur aktuellen Debatte. Sondern auch, weil Ariana Zustra eine überraschende Antwort auf die Frage: „Ist Blackfishing das neue Blackfacing?“ findet.
Zustra zeigt in „Ariana Grande und das ‚Blackfishing‘ – wo beginnt Rassismus?“ die Verwandlung des ehemaligen Disney-Stars auf, die auf vielen Ebenen stattfindet. Nicht nur das Aussehen, sondern auch Grandes Musik und Sprache bedienen sich der kulturellen Traditionen einer unterdrückten schwarzen Minderheit und das, wie Grande vorgeworfen wird, allein aus Marketing-Gründen, also um Geld zu verdienen. Die Tatsache, dass Grande ihre „Hautfarbe“ so einsetzt, wie sie am meisten Erfolg verspricht, macht das „Schwarzsein“ zu einem Accessoire, schreibt Zustra, um anschließend jedoch einen Rückblick auf das Phänomen der kulturellen Aneignung zu geben. „Es gibt keine trennscharfe ‚schwarze‘ oder ‚weiße‘ Kultur“, analysiert Zustra und findet einen abschließenden Ansatz, der ohne Verurteilung auskommt: „Anstatt Weißen die Annäherung an eine ‚schwarze Kultur‘ einzuschränken, sollte das Ziel sein, dafür zu sorgen, dass Schwarze wegen ihrer Kultur und Hautfarbe nicht diskriminiert werden.“
Zustras Herleitung und Argumentation enthält sich allem, was für die Journalistin leicht gewesen wäre: Draufhauen auf ein blondes Popsternchen, das das Schwarzsein für sich entdeckt hat, um mehr Geld zu verdienen. Die Autorin inspiriert ihre Leser*innen, sich – statt vorschnell eine Meinung zu haben – für die Gleichberechtigung aller Kulturen einzusetzen. Ein Fazit, das aktueller nicht sein könnte.
Für die Jury: Susanne Baller
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - englisch): Kieran Press-Reynolds (How TikTok is Taking the Tunes out of Pop - Highsnobiety (03/2020))
Nachdem ich seit einigen Jahren in der Jury des Internationalen Musikjournalismus-Preises mitgewirkt habe, ist mir ein gewisses Muster aufgefallen, das den deutschen Musikjournalismus von seinem englischen oder amerikanischen Pendant unterscheidet. In den deutschen Stücken geht es meist um einzelne Künstler*innen oder Bands, in den anglo-amerikanischen Texten geht es häufiger um bestimmte Phänomene oder Szenen. Letzteres erscheint mir persönlich faszinierender und lehrt mich mehr.
Kieran Press-Reynolds' Text über TikTok Rap mit dem Titel "How TikTok Is Taking The Tunes Out Of Pop" ist ein Paradebeispiel für diesen investigativen Ansatz. Nachdem er ein scheinbar neues Phänomen identifiziert hat - nicht nur einen neuen Trend, sondern eine neue Form kulturellen Verhaltens in Verbindung mit einer neuen digitalen Plattform - setzt er sich hin und recherchiert gründlich, was genau darunter zu verstehen ist, und definiert diese Neuheit in einer "Taxonomie neuer Subkulturen und Klänge", wie mir eine ihm nahe stehende Quelle erklärte. Press-Reynolds' überwältigende Schlussfolgerung ist im Wesentlichen zweifacher Natur: In Zukunft muss ein Lied nicht länger als 15 Sekunden sein - die Länge eines TikTok-Clips; und wo es früher eine Melodie gab, wird es stattdessen verzerrte Bassschleifen geben, da diese in hohem Maße "clippbar" sind.
Erst nachdem ich sein Stück mit großem Vergnügen gelesen hatte (und mich prompt zwei Stunden lang auf TikTok verirrte, wo ich mir "Renegade"-Clips ansah), sah ich mir genauer an, wer der Autor tatsächlich war, und erkannte, warum sein Name mir bekannt vorkam. Und in der Tat sind die Musik- und Kultur-Autor*innen Joy Press und Simon Reynolds seine stolzen Eltern; ein gewisses analytisches Talent und sprachliches Gespür scheinen in der Familie zu liegen. Apropos Laufen: Im noch zarten Alter von 21 Jahren kann Kieran Press-Reynolds bereits auf mehrere Jahre als vielversprechender Sportler und Langstreckenläufer zurückblicken. Hoffen wir, dass er seine Hingabe, über die Distanz zu gehen, in seinem Schreiben zum Ausdruck bringt. Press-Reynolds schließt seinen preisgekrönten Text mit der Feststellung, dass Andy Warhols 15 Minuten Ruhm nun auf nur noch 15 Sekunden geschrumpft sind. Ich sage voraus, dass wir mindestens 15 Jahre lang in den Genuss seiner hochwertigen Erkenntnisse über bisher unbekannte Musikphänomene kommen werden.
Für die Jury: Hans Nieswandt
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - dänisch): Ralf Christensen, Louise Rosengreen, Rasmus Steffensen, Sophia Handler // "Informations drømmefestival" (Artikelserie in der Tageszeitung Information)
Als das Jahr 2020 begann, war niemand darauf vorbereitet, dass ein neues Virus der Musikszene einen vernichtenden Schlag versetzen und 2020 zum Jahr ohne Festivals machen würde. Ein Team von Musikjournalist*innen der Zeitung Information verweigerte sich jedoch, klein bei zu geben, und schuf ein eigenes imaginäres Traumfestival mit einem atemberaubenden Line Up.
Kate Bush, Joni Mitchell und Frank Ocean, aber auch weniger bekannte Künstler wie die sambische Hip-Hop-Herrscherin Sampa the Great, die verletzte Coolness des schwedischen Rappers Yung Lean und die mythologisch-politische Folklore von DakhaBrakha aus der Ukraine sind Gegenstand der großartig geschriebenen Konzertkritiken von Ralf Christensen, Louise Rosengreen, Sophia Handler und Rasmus Steffensen.
Die Konzerte haben nie stattgefunden, aber die Beschreibungen lassen sie uns deutlich sehen und fühlen. Kate Bush, die fast nie live spielt, wird in einem seltenen Set vorgestellt, in dem die Sängerin in einer durchsichtigen Blase schwebt, die mit phosphoreszierendem, eisblauem Wasser gefüllt ist, und später in ein magnetisches Kleid gekleidet, das blutige Dolche vom Bühnenboden anzieht. Joni Mitchell ist die weise alte Frau auf einem Hochsitz, an einen Stock geklammert, umgeben von sie verehrenden jungen Künstlerinnen wie Nadia Reid, Laura Marling, Bedouine und Brandi Carlile. Frank Ocean verwandelt einen der großen Parks Kopenhagens in eine quadrophonische Traumbühne unter blendendem musikalischen Einsatz der vielen Auto-Modelle, die in seinen Liedern vorkommen. Die Artikel blättern die Lebensgeschichten der Künstler auf, zeigen dem Leser neue Seiten bekannter Musiker und stellen aufregende neue Namen vor.
Das „Drømmefestival“ von Information verwandelte die traurige Leerstelle fehlender Festivals in eine Feier der transformierenden Kräfte von Live-Musik und des Festival-Erlebnisses, während es Musikjournalismus von seiner besten Seite zeigte.
Für die Jury: Anya Mathilde Poulsen
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Text - französisch): Sophian Fanen ("Le Chants des Machines: l'intelligence artificielle entre dans la pop" (Les Jours))
Bringt das Konzept Künstlicher Intelligenz und die Art, wie sie die Popmusik durchdringt, genau auf den Punkt. Brillante Analyse der aktuellen Musikkultur in der Qualität und Tiefe, die wir bei Artikeln von Sophian Fanen gewohnt sind.
Die IMJA Jury
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - deutsch): Nabila Abdel Aziz // Wie die Aufstände in der Arabischen Welt die arabische Musik revolutionierten – Zündfunk / BR (02/2020)
Nein, Musik ist keine „universelle Sprache“, wie so gern behauptet wird. Ohne kulturellen Kontext, ohne Deutung und Zusammenhänge ist der Zugang oft schwer – weshalb Nabila Abdel Aziz mit ihrem Feature über den Wandel der Musik in der Arabischen Welt für viele von uns ein immens wertvolles Stück Aufklärungsarbeit geleistet hat.
Je tiefer sie uns in die alternativen, eklektischen Musikszenen von Ländern wie Tunesien, Ägypten, Syrien und Sudan führt, desto offensichtlicher wird, dass unser gewohnter Horizont nicht selten nur ein enger Tellerrand ist. Wie wunderbar, hier neue Aus- und Einblicke zu bekommen! Verstehen zu lernen, wie eine neue Generation arabischer Künstler*innen – oft an der Grenze der Legalität ihrer jeweiligen Heimat – daran arbeitet, den einlullenden Soundtrack unterdrückerischer Regime mit ihren eigenen Stimmen zu übertönen, ist eine echte Bereicherung.
Für die Jury: Christoph Lindemann
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - englisch): Cole Cuchna (Dissect (Podcast) - S6 Beyoncé Lemonade - Spotify (04/2020))
Dissect, dieser Podcast widmet sich in jeder Staffel einem bedeutendem HipHop-Album. Zu jedem einzelnen Song gibt es eine 40-minütige Folge, in der in detailverliebter Feinarbeit Textpassagen, musikalischer Aufbau und Bedeutungsebenen analysiert werden. Cole Cuchna recherchiert, analysiert, schreibt, spricht und produziert alles im Alleingang.
Vor Kurzem hat er Beyoncés Album „Lemonade“ seziert. Da ist Cuchna sogar noch einen Schritt weitergegangen, um diesem Werk gerecht zu werden. Seine Analyse beschränkt sich nicht nur auf die auditive Ebene dieser Platte, sondern er lässt auch das dazugehörige Visual-Album in die Interpretation und Analyse einfließen. Dabei hangelt er sich von Detail zu Detail.
Cuchna dekodiert Schritt für Schritt einzelne Video-Szenen und Textzeilen, die geschichtliche Relevanz in der afroamerikanischen Vergangenheit haben, um sie umfassend zu erklären und einzuordnen.
Gerade in einer Zeit, in der weltweit Millionen von Menschen auf die Straße gehen, um gegen Polizeigewalt gegen die Black Community zu demonstrieren, in der systemischer Rassismus aufgezeigt wird, ist diese Beyoncé-Staffel von Dissect von großer Bedeutung. Ein Song, bei dem wir im Auto mitsingen und dessen Musikvideo nebenbei auf dem Laptop läuft, bekommt plötzlich eine düstere Schwere und eine kulturelle Kontextualisierung, die uns sonst entgangen wäre.
Darüber hinaus preist Cuchna die Popmusik, die inzwischen meist nur noch mit wenigen Schlagworten besprochen wird, indem er tief in die Materie eindringt und deren künstlerischen Wert herausarbeitet. Damit bereichert Cuchna Popmusik-Kultur auf eine Weise, die in der heutigen Medienwelt ihresgleichen sucht.
Für die Jury: Claudia Kamieth
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Audio - dänisch): Lucia Odoom ("Politikens Poptillæg" Podcast)
Im Internetzeitalter, in dem die enzyklopädische Weisheit konventioneller Musik-Expert*innen an Boden verliert, hat dieser wöchentliche Podcast in den vier Jahren seines Bestehens einen radikal eigenständigen und klugen Ansatz für Musikjournalismus gewählt. Enthusiastisch in ihrem sehr persönlichen Tonfall moderiert von der Musikkritikerin Lucia Odoom, geht diese "Pop-Beilage" über das Format der Besprechung einzelner Alben hinaus und verbindet Popmusik mit breiteren Diskussionen aus dem kulturellen Bereich. Mit intimen aber qualifizierten Gruppengesprächen und klanglich interessanter Produktion ist der Podcast zu einer allgemeinen Plattform für liebevolle, neugierige und analytische Gespräche über Popkultur geworden. Es ist ein Ort, an dem Hochkultur und Underground gleichberechtigt sind und in dem erwartet werden kann, dass die tiefere Bedeutung von Haarspangen-Trends oder Fragen der sozialen Ungerechtigkeit neben Soundcloud-Rap oder dem ikonischen Status von Joni Mitchell diskutiert werden. Sensibel für das, was uns als Musikkonsument*innen bewegt und berührt, teilt Lucia Odoom ihren beeindruckenden Überblick, während sie die Art und Weise erforscht, wie Musik oft tief mit unserem täglichen Leben und unseren persönlichen Erinnerungen verwoben ist.
Für die Jury: Anna Ullman
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Multimedia - deutsch): Miriam Fendt, Fridolin Achten, Frederik Kunth, Philipp Laier // Visa Vie, Josi Miller, Cashmiri / Co.: Wie diese Frauen Deutschrap prägen - Puls Musik (03/2020)
Das Märchen, deutscher Hip Hop sei Männersache, haben wir jetzt wirklich lange genug erzählt bekommen. "Visa Vie, Josi Miller, Cashmiri und Co.: Wie diese Frauen Deutschrap prägen" aus der Reihe "Puls Musik Analyse" leistet einen wertvollen Beitrag zum dringend nötigen Perspektivenwechsel.
Solide recherchiert, nachvollziehbar strukturiert und angenehm präsentiert, porträtiert das knapp viertelstündige Video Frauen, die als Produzentinnen, Produzentinnen, DJs, Fotografinnen, Regisseurinnen, Journalistinnen, Podcasterinnen und Veranstalterinnen alle Bereiche des Rap-Games geprägt haben. Die Auswahl der Protagonistinnen beschränkt sich dabei nicht auf die drei in der Headline gedroppten Namen. Hinter dem "und Co." im Titel stecken unter anderem Melbeatz oder Katja Kuhl, die schon Deutschraps Kindertage wesentlich mitgestaltet haben. Damit gerät der Beitrag nicht nur rein informativ, sondern unterhöhlt subversiv das gängige Narrativ. Siehste? Deutschrap war nie wirklich eine Männerdomäne. Wer das immer noch glaubt, hat nicht sehr genau hingesehen.
Dass diese Erkenntnis doch wieder ein Mann in die Kamera moderiert, mag der einen oder anderen im ersten Moment leise sauer aufstoßen. Tatsächlich ist aber zu begrüßen, wenn Veränderungen nicht länger nur die Angelegenheit unmittelbar Betroffener bleibt. Erst wenn Feminismus keine Frauensache mehr ist, sondern Anliegen und Bestreben aller, haben auch alle gewonnen. Heute gewinnen aber zunächst einmal Miriam Fendt, Friedl Achten, Frederik Kunth und Philipp Laier. Herzlichen Glückwunsch.
Für die Jury: Dani Fromm
Beste musikjournalistische Arbeit des Jahres (Multimedia - englisch): Alzo Slade, Eric Weinrib, Lyle Kendrick, Kelly Kendrick, Jared Perez, Daniel Plyam // Russia's War on Hip-Hop - Vice Investigates (11/2019)
„Künstler sind nicht die eigentliche Ursache der Probleme, Künstler spiegeln nur die Probleme wider". So lautete das Zitat am Anfang des Dokumentarfilms, das den Kern der meisten politisch aufgeladenen Musik trifft, und auch den Kern von Hip-Hop, seit seiner Erfindung in den 1970er Jahren auf Blockpartys zu einer kulturellen und künstlerischen Bewegung und zu einem Spiegel der Gesellschaft geworden. Hip-Hop erstarkte in den 80er Jahren zur perfekten Form um die durch Jahrhunderte sozialer Ungerechtigkeiten verursachten Leiden der Black / Brown Communities zu vokalisieren und auszudrücken.
Heute ist Hip-Hop und Rap für junge Menschen auf der ganzen Welt zu einem Ausdrucksmittel geworden und hält ihren eigenen Ländern den Spiegel gesellschaftlicher und politischer Ungerechtigkeiten vor, unter Einbeziehung der Einflüsse des musikalischen Erbes der jeweils eigenen Kultur..
Ich fand dieses Stück über den Krieg gegen den Hip-Hop in Russland aufschlussreich und ein tiefes Eintauchen in ein Land und seine Jugend, die keine Anzeichen von Aufgeben zu zeigen scheinen, trotz des Drucks gegen ihre Botschaften der Unzufriedenheit, den Politiker, lokale Beamte und/oder Selbstjustizgruppen ausüben, die irgendwie die Gefahr spüren, die von der Jugendkultur ausgeht, und Risse im Glauben an ein längst gescheitertes System fürchten. Dies alles geschieht in der nebligen Welt zwischen alter sowjetischer Propaganda, an der die Politiker und Beamten festhalten, und den neu gefundenen Freiheiten des Ausdrucks, mit denen die Hörer von Hip-Hop und Rap erfüllt zu sein scheinen. Ich fand, dass die Nachforschungen und Interviews, die Alzo Slade führt, trotz und vor dem sehr schweren Hintergrund dessen, was die Künstler durchmachen, und trotz des ernsten Tons der Beamten und der Vigilanten, mit denen er sprechen konnte, Leichtigkeit bewahren, dass sie aber die Überlegungen aufzeigen können, die die jüngeren Generationen über sich selbst und ihre Rolle in diesem besonderen Moment der Kuktur anstellen. Es entstetht das Gefühl, dass die russische Jugend unwissentlich darauf gewartet hat, dass das Internet kommt und diese Liebe und den künstlerischen Ausdruck, die der Hip-Hop bietet, entflammt, aber sich dabei das Ganze zu eigen gemacht hat.
Für die Jury: Melissa Perales
Beste musikjournalistische Arbeit unter 30 Jahren (deutsch)
Stefan Sommer (Neuer Deutscher Rechtsrap: Chris Ares - PULS BR / Süddeutsche Zeitung (09/2019))
Im Tonfall sachlich, sauber recherchiert und mit analytischem Tiefgang zeigt Stefan Sommer die Verstrickung eines "patriotischen Rappers" mit parteipolitischem Kalkül und neurechter Szene auf.
Musikjournalismus als Investigation und Aufklärung, Haltung statt Pose.
Bahar Sheikh (Opfer, Täterin, so vieles mehr (Paywall) - Missy (09/2019))
Schultert die Aufgabe, den Zwiespalt auszudrücken, den das Buch der kontroversen Figur der Deutschrap Szene hinterlässt und kommentiert dabei Konflikte aktueller Feminismus-Debatten über Sexarbeit.
Sebastian Lessel (Orientalismus wegflexen - Spex (11/2019))
Souveräne Einführung in die neue Normalität einer nicht-europäischen, nicht-amerikanischen Popkultur, hier der aus dem Maghreb. Angenehm-selbstverständlicher Text über eine alternative Musikrealität, ohne zu fremdeln, ohne zu patronisieren, ohne zu kuscheln.








